Grüße von einem der letzten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz
- lebensperger
- vor 5 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 4 Tagen

Aus Erzählungen kennen vielleicht einige der aktuellen und jüngeren Schülerinnen und Schüler Dr. Leon Weintraub, der uns auf den Nessellachen in vergangenen Jahren wiederholt zu Zeitzeugengesprächen besucht hatte. Er befindet sich inzwischen in seinem 100. Lebensjahr! Noch immer ist er in Deutschland und Europa unermüdlich unterwegs, um als einer der letzten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz vor Schülern und Nachgeborenen von den Verbrechen des Nationalsozialismus Zeugnis abzulegen.

Jüngst hielt er sich anlässlich des 80. Jahrestages seiner Befreiung aus nationalsozialistischer Gewaltherrschaft wieder einmal in Deutschland und auch in Freiburg auf. Wie jedes Mal, wenn ihn seine Tätigkeit nach Freiburg oder in den Schwarzwald führt, nahm er auch dieses Mal wieder Kontakt zur timeout Schule auf. Denn seit seinem ersten Besuch im Hofgut Rössle in Breitnau vor knapp zehn Jahren fühlt er sich der timeout Stiftung in ganz besonderer Weise freundschaftlich verbunden. In seinen Vorträgen berichtet er immer wieder von seinen positiven Eindrücken, die er hier bei uns in der timeout Jugendhilfe und timeout Schule gewinnen konnte.
Leider ließ sich diesmal in der Kürze der Zeit und wegen der noch andauernden Osterferien kein Zeitzeugengespräch zwischen ihm und unseren Schülern mehr organisieren. Die Tage bis zu seiner Rückkehr nach Stockholm waren bereits mit anderen Verpflichtungen in weiteren Städten Deutschlands ausgefüllt.
Er bat jedoch darum, seine herzlichsten Grüße und auch die seiner Gattin Evamaria an die Schulgemeinschaft auszurichten. - Dies soll hiermit geschehen.
Wir stehen mit ihm im regelmäßigen Brief- und Telefonkontakt und hoffen, ihn im Laufe der zweiten Jahreshälfte noch einmal zu uns einladen zu können (falls seine gesundheitliche Verfassung dies zulässt). Wir werden darüber rechtzeitig informieren.
M. Hubert Schwizler
schulische Leitung der timeout Werkrealschule

Dr. Leon Weintraub
1926 wurde Leon am Neujahrstag Als Sohn eines Altkleidersammlers und einer Wäschebetreiberin in Łódź/ Polen geboren. Leon wuchs in ärmlichen, aber glücklichen Verhältnissen am Rande zum Armenviertel in Łódź auf, wo sich das Leben auf der Straße abspielte und er autodidaktisch lesen lernte. Mit seinen vier Schwestern redete Leon zu Hause Polnisch, mit seiner Mutter jiddisch.
Nach dem Tod des Vaters muss die Mutter Leon und seine vier Schwestern allein großziehen. Bis zum Kriegsausbruch geht Leon sechs Jahre in die Schule.
Im Winter 1939 muss Familie Weintraub ins Ghetto Litzmannstadt umsiedeln, das von den Deutschen in Lodz errichtet wird. Dort arbeitete er in einer Fabrik (Galvanisation, Klempnerei und elektrische Werkstatt). Als die Deportationen aus Litzmannstadt begannen, versteckte sich die Familie Weintraub, wurde jedoch entdeckt. Im August 1944 wird Leon mit seiner Mutter und den Schwestern nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er von seinen Angehörigen getrennt wird. Seine Mutter sieht er nie wieder: Sie wird kurz nach der Ankunft im Lager in der Gaskammer ermordet.
Leon übersteht die Selektion, da er für arbeitstüchtig befunden wird. Sechs Wochen später gelingt es ihm, aus Auschwitz zu entkommen: Er entging dort der Vergasung durch den unbemerkten Anschluss an einen Gefangenentransport in ein Außenlager des KZ Groß-Rosen. Später folgen die Konzentrationslager Flossenbürg und Natzweiler-Struthof/Kommando Offenburg.
Die Befreiung erlebt Leon Weintraub kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges durch französische Truppen in der Nähe von Donaueschingen. Als die französische Armee näherrückte, trieben die SS-Mannschaften die Häftlinge weiter ins Landesinnere. Auf der Fahrt Richtung Bodensee gelang Leon Weintraub zusammen mit anderen Häftlingen die Flucht, nachdem der Zug von einem Jagdbomber beschossen worden war. Nach einem nächtlichen Fußmarsch kamen sie am 23. April 1945 in Donaueschingen an, das zwei Tage zuvor von den Franzosen besetzt worden war. Er wog nur noch 35 Kilogramm und litt an Typhus. Von seiner Familie überlebten drei seiner älteren Schwestern das KZ Bergen-Belsen.
1946 nimmt Leon in Göttingen das Medizinstudium auf. Er heiratet Katja Hof, eine deutsche Slawistin, deren Übersetzung der Werke von Janusz Korczak mit dazu beitrug, dass diesem 1972 posthum der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt wurde. 1950 kehrt Weintraub mit seiner Frau und dem ersten ihrer gemeinsamen Kinder nach Polen zurück und wird in einer Frauenklinik in Warschau als Gynäkologe tätig. 1969 verliert Dr. Leon Weintraub in Folge des zunehmenden Antisemitismus in Polen seine Anstellung als Oberarzt. Daraufhin wandert er mit seiner Familie in das neutrale Schweden aus.
Heute lebt Dr. Leon Weintraub (nach dem Tod seiner ersten Frau) mit seiner zweiten Frau Evamaria in der schwedischen Hauptstadt Stockholm und engagiert sich seit vielen Jahren als Zeitzeuge gegen das Vergessen. Seine Botschaft an junge Menschen lautet: "Die Erinnerung an das Geschehene lebendig zu halten, ist eine Art Gewähr dafür, dass so etwas nie wieder vorkommt. Das Schlimmste ist das Vergessen."
Vor der jüngsten Bundestagswahl schrieb er Ende 2024 gemeinsam mit seiner Frau Evamaria an Friedrich Merz, den inzwischen designierten Kanzler Deutschlands, den folgenden Brief:
Sehr geehrter Herr Merz,
voller Schrecken verfolgen meine Frau und ich Ihre derzeitige Politik. Als 99-jähriger Überlebender vom KL-Auschwitz und Häftling in Flossenbürg-82702, sowie auch anderen Lagern wende ich mich an Sie, Herr Merz, mit der dringenden Bitte, dieses menschenfeindliche „Zustrombegrenzungsgesetz“ nicht weiter zu behandeln.
Dringende Korrekturen in der Migrationspolitik sind sicherlich notwendig. Aber doch bitte nicht in der von Ihnen durchgeführten, verfassungswidrigen und rechtsradikalen Form. Arbeiten Sie mit Vernunft, mit demokratischen Parteien und vor allen Dingen unter den geltenden Gesetzen des deutschen Staates und der Europäischen Union. Die Folgen Ihrer derzeitigen Politik führen bereits schon wieder zu einer Fremdenfeindlichkeit und Polarisierung in der Gesellschaft, die wir Überlebenden des Holocausts so bitter am eigenen Leibe erfahren mussten. Arbeiten Sie mit demokratischen Parteien und Menschen guten Willens. Wenden Sie sich ab von rechtsradikalen Parteien in Deutschland und tragen Sie nicht zu eventuellen Triumphen im rechtsradikalen Lager bei.
Ich habe als Überlebender sehr unter der Propaganda und der Verblendung der Mitläufer im sogenannten 1000-jährigen Reich gelitten, ein großer Teil meiner Familie wurde ermordet. Bitte hören Sie nicht auf die Lockrufe der Rechten und vor allen Dingen, nehmen Sie ernst, was diese von sich geben, sie meinen, was sie propagieren! Unser Grundgesetz deklariert:
„Asylrecht ist Menschenrecht“. Wir sind als Menschen geboren, bleiben Sie Mensch,
Herr Merz.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Leon Weintraub
Evamaria Loose-Weintraub
Comments