
Von Christoph Giese
Do, 14. Juli 2022 um 06:31 Uhr
Keine Noten, kein Zwang, dafür viel Praxis – an der Schule der Timeout Stiftung in St. Märgen werden Inhalte in Projekte eingebunden. Das Klassenzimmer ist nur einer von mehreren Lernorten.
Die Sonne steht hoch über der Wiese am Thurner am Dienstagmorgen. Ein paar Schüler bauen dort einen Zaun für ein Tiergehege. Die Pfosten stecken schon im Boden. Zwei Jungen schlagen Nägel ins Holz, um den provisorisch gespannten Draht zu befestigen. Rhythmisch schlagen die Hämmer auf das Metall. Weiter hinten surrt ein Akkuschrauber. Es riecht nach Weide. "Wir machen gerade Matheunterricht", sagt Matteo Tartari und deutet auf die Jugendlichen.
Tartari ist Lehrer an der Schule der Timeout Stiftung in St. Märgen. Er trägt ein dunkles T-Shirt, Arbeitshose und
Stahlkappenschuhe. Seine langen braunen Haare hat er zu einem Zopf gebunden.

Das Projekt ist Teil des Unterrichts. Am Tag zuvor haben die Schüler berechnet, wie groß die Fläche ist, die sie einzäunen, wie lang der Draht sein muss, wie viele Pfosten sie benötigen. Mathe eben.
An die Schule kommen Kinder, die als unbeschulbar gelten
Die Timeout-Schule ist eine staatlich anerkannte private Werkrealschule. Das Angebot richtet sich an Schüler, die in einer normalen Schule nicht zurechtkommen, die als unbeschulbar gelten. Knut Wuhler, Geschäftsführer der Timeout Stiftung, sagt, das seien Schüler, die Lehrer an anderen Schulen als untragbar bezeichnen würden. Oft sind sie Monate, manchmal Jahre nicht mehr zur Schule gegangen, wenn sie hier ankommen.
"Man muss aufpassen, dass man Unbeschulbarkeit nicht mit Unfähigkeit gleichsetzt, das ist nämlich nicht das Gleiche", sagt Wuhler. Bloß weil ein Kind mit klassischem Unterricht nicht zurechtkomme, bedeute das nicht, dass es nichts könne, sagt Wuhler. Bei Timeout wird den Schülern daher viel Freiheit eingeräumt. Sie bestimmen ihre Ziele, ihre Inhalte, ihren Alltag. "Ein Ziel kann schon sein, wieder jeden Tag zur Schule zu kommen."
Mitten in der frisch eingezäunten Weide stehen Lehrer Joachim Hug und Schüler Matteo. Sie bauen eine Holzkonstruktionum einen Bergahorn, um den Baum vor knabbernden Tieren zu schützen. "Da muss noch eine Latte in die Mitte", sagt Hug. "Warum?", will Matteo wissen. "Damit das stabiler ist, wenn die Ziegen dagegen laufen."

Hug ist für die Holzwerkstatt zuständig. Er misst den Abstand zwischen den oberen und den unteren Brettern mit einem Zollstock. Das dritte soll genau in die Mitte. "Was ist 1,12 Meter durch zwei? Das kannst du, Matteo", sagt Hug. Matteo möchte gerade aber nicht rechnen. "56 Zentimeter klingt gut, oder?" Matteo schnappt sich den Akkuschrauber, setzt an und dreht eine dicke goldene Schraube ins Holz. Dann das Gleiche am nächsten Pfosten. Hug legt die Wasserwaage an, alles gerade. Matteo schraubt.
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wiederfinden
Darauf liegt der Fokus der Schule: über praktische Tätigkeiten Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen. "Viele Kinder haben den Glauben an sich verloren, wenn sie länger nicht in der Schule waren", sagt Lehrer Tartari. Viele meinen, sie können nichts. "Durch simple Arbeiten können sie auf ihre Begabung kommen."
Und an der Schule gibt es einiges zu tun. Zum Schulgelände gehören große Weiden und Wiesen. Schafe, Ziegen, Pferde wollen versorgt werden. Im Winter wird Brennholz für die Heizung benötigt. Überall helfen die Schüler mit. Die schulischen Inhalte werden praktisch angewandt. "Viele haben Angst vor Flächenberechnung oder Pythagoras. Aber wenn wir einen Baum fällen, kann man das sehr plastisch lernen", erklärt Knut Wuhler.
Keine Noten, keine Zeugnisse, keine Klassen
Ganz ohne Theorie geht es aber nicht, denn am Ende soll ein regulärer Werkrealschulabschluss stehen. Daher gibt es an der Schule auch ein richtiges Klassenzimmer mit Tafel, Tischen und Stühlen. Es ist das Reich von Hubert Schwizler. Erträgt ein Hemd, Anzughose, Anzugschuhe und unterrichtet alles. Deutsch, Mathe, Geschichte, Physik. Klassenstufen gibt es nicht. Die Schüler werden unabhängig vom Alter gemeinsam unterrichtet. Für viele ist das nicht so einfach: "Manche fangen mit ein bis zwei Tagen in der Woche an", sagt Schwizler. Andere kommen täglich. Schwizler will ihnen Freude am Lernen vermitteln. Zeugnisse gibt es auch nicht. Die Lehrer stellen ein Portfolio zusammen, in dem alle Tätigkeiten und Projekte dokumentiert werden.
Und was, wenn ein Schüler keine Lust hat, etwas zu machen? "Dann ist das halt so", sagt Knut Wuhler. Wenn einer lieber den Vormittag am Handy verbringe, könne er das machen. "Der sieht dann irgendwann, dass die anderen draußen Spaß haben." Es gehe darum, die Motivation der Kinder zu wecken, sie dazu zu bringen, etwas machen zu wollen, weil sie Lust haben. "Die Schüler bestimmen das Tempo. Das geht schneller, als wenn wir es bestimmen." Die Schule mache den Schülern ein Angebot und unterstütze sie.
Das erfordert Geduld. Für die Lehrer sei das auch belastend. "Es ist manchmal wichtig zu sagen, den lassen wir noch. Man darf nicht zu früh intervenieren", sagt Wuhler.

Dass das dazu führe, dass die Schüler keine Disziplin haben, glaubt Wuhler nicht: "Sehen Sie hier ein Disziplinproblem?", fragt er und zeigt auf zwei Jungen, die Werkzeug von der eingezäunten Weide in Richtung Schuppen tragen. Die Schüler sind fertig. Nur die Tore fehlen noch. "Unser erster gerader Zaun", sagt Wuhler. Mit jedem Projekt wachse eben die Erfahrung.